Virus und Infektion – über naheliegende (und falsche) Analogien

Tarsila do Amaral, Antropofagia, 1929, Öl auf Leinwand, Sammlung José e Paulina Nemirovsky, © Romulo Fialdini

 

Von SABETH BUCHMANN

Das Begehren der ersten Tage, so viele Informationen wie möglich aus den Medien und Netzen aufzusaugen, ist zwar etwas abgeflaut… dennoch habe ich bereits vor dem heutigen Frühstück (am 30. März) die sicherlich schon von Millionen anderer News-Süchtiger mit (Schaden-)Freude geteilte Nachricht gelesen, dass Twitter zwei Tweets von Jair Bolsonaro gelöscht hat und dass brasilianische Richter „Informationen zum Coronavirus ohne wissenschaftliche Grundlage“ verboten haben – hierzu zähle auch die „Kampagne‚ Brasilien darf nicht stillstehen‘“.

Blick auf den Görlitzer Park, 29. März 2020

Während ich mir in den vergangenen Tagen Überblick über die schiere Fülle an vorerst bis Ende April erweiterten Online-Zugänge zu Bibliotheken und Datenbanken verschaffte, bestand meine innere Ausflucht vor den anwachsenden Lesebergen in Fensterblicken auf spazierengehende, joggende, ihre Kinder und Hunde ausführende, dealende, rauchende, trinkende, dabei auf Bänken und Rasen sitzende, Luft schnappende und Vitamin D-anreichernde Menschen im Görlitzer Park in Berlin-Kreuzberg. Das Massenornament, welches sich an den vergangenen sonnigen Tagen spätestens ab Mittag bildete, war dabei merklich fragmentiert – keine Menschen-Knubbel mehr oder wenn, dann nur für kurze Zeit, bis die Polizeistreife – gelegentlich in coronatechnisch bedenklichen Dutzendschaften – vorbeikam und lautstark Anordnungen zum Aufstehen, Weitergehen und Vereinzeln gab.

Dass Bolsonaro wenigstens einen kleinen Schuss vor seinen unfassbar dummen, rechtsradikalen Bug bekommen hat, motivierte mich, wenige Stunden später in Suely Rolniks vor zwei Jahren in deutscher Übersetzung von Oliver Precht erschienenes Zombie Anthropophagie: Zur neoliberalen Subjektivität (Turia + Kant) hineinzulesen – ein Buch, das auf einen Text zurückgeht, der 2005 im Katalog der der von WHW kuratierten Ausstellung Kollektive Kreativität in der Kunsthalle Fridericianum in Kassel erschienen ist – zu stöbern, welches ich mit den Studierenden meiner an der Wiener Akademie der bildenden Künste abgehaltenen Lehrveranstaltung nach den verlängerten Osterferien (wohl per distant teaching) diskutieren möchte (ursprünglich war es zur Vorbereitung unserer nun ausfallenden Brasilien-Exkursion gedacht).

Heute, da es passend zum vorzeitigen Aprilbeginn schneite, rekapitulierte ich, vom menschenleeren Park nicht mehr abgelenkt, die Thesen der brasilianischen Psychonanalytikerin, Kulturtheoretikerin und Kuratorin zur Möglichkeit, gegen die herrschende neoliberale Flexibilisierung der/ des Einzelnen einen „politische(n) Prozess des kulturellen und existenziellen Experimentierens“(S. 36) in Gang zu setzen – einen Prozess, den Rolnik mit dem ‚aktiven Pol‘ der historischen Anthropophagie der 1920er sowie ihrer „Renaissance“ in den 1950er bis 70er Jahren als eine Bewegung identifiziert, die für die Idee einer dekolonisierenden An- bzw. Enteignung des kolonialen Mythos‘ der Menschenfresserei steht: Diesem maßgeblich von dem Dichter Oswald de Andrade und der Malerin Tarsila de Amaral in den 1920er Jahren aufgegriffenen Mythos zufolge haben die Tupí als eine der vor der portugiesischen Kolonisierung größten indigenen Bevölkerungsgruppen ihre Feinde immer (nur) dann verschlungen, wenn diese für stark und damit für würdig befunden wurden, als Fremdlinge in ihren Körpern fortzuleben und sich auf metabolistische Weise mit diesem zu verbinden. Ein respektvoll-respektloseres Beispiel für gelebte non-hierarchische Koexistenz gibt es wohl kaum. Kein Wunder daher, dass die historische Anthropophagie inzwischen als eine der wichtigsten Bezugspunkte der Postcolonial Studies gilt. In m.E. triftiger Weise von der bisweilen ungebrochenen Affirmation unterscheidet Rolnik indes zwischen einem „aktiven“ und „reaktiven Pol“ der längst in das nationale Branding Brasiliens aufgenommene (dabei aber wohl kaum Bolsonaro-geeigneten) Anthropophagie. So plädiert die Autorin zu Recht für eine ambivalentere Wahrnehmung der „anthropophagen Subjektivität“, insofern diese seit den 1970er Jahren auch zunehmend für die flexible Anpassung an die kapitalistisch-kolonialistische Produktionsweise und damit zur neoliberalen Vergesellschaftung der ihre kulturelle Andersheit fetischisierenden Brasilianer*innen prädestiniert habe. Warum ich Rolniks ungnädigen Blick hier paraphrasiere, hat mit der von ihr gewählten Virus-Metapher zu tun:

„Tatsächlich scheint es, als würde sich das Virus des Glaubens an das vom kulturellen Kapitalismus geschaffene Paradies – dieser Mythos, der die wesentlichen Kräfte der Subjektivität zersetzt – seit den späten 80er Jahren und mehr noch seit der zweiten Hälfte der 90er Jahre in Brasilien und auch sonst zunehmend zu erkennen geben. In allen Ecken der Welt entstand eine Bewegung zur Erforschung des Antivirus, der zur Bekämpfung dieser Epidemie vonnöten ist – mit unterschiedlichen Methoden und auf einer Vielzahl von Feldern: von der Kunst des politischen Aktivismus bis zu den sozialen Bewegungen und in allen Arten der Schnittmengen zwischen ihnen. Die pathologische Verblendung, die sich der kapitalistischen Zelebration des Lebens als einer schöpferischen Kraft verdankt, der es einzig darum ging, diese Kraft zu instrumentalisieren, wurde nun zunehmend ‚behandelt‘, mit dem Ziel, das kritische Potenzial ihres Vermögens oder ihre Gesundheit wiederherzustellen.“ (S. 75-76)

Diese Zeilen ließen mich an den Einwand der in Zürich lehrenden Slawistin Sylvia Sasse gegen Slavoj Žižeks Replik auf Giorgio Agambens sicherlich problematische These einer unter den Bedingungen derzeitiger Krisenpolitik radikalisierten Normalisierung des Ausnahmezustands denken: So zielt Sasse mit ihrer Kritik auf Žižeks in ihren Augen fahr- und unzulässige Gleichsetzung „realer Epidemien“ mit Tolstojs literarischer Kunsttheorie, die auf dem Gedanken der kulturellen Ansteckung beruht. Der slowenische Philosoph und Kulturkritiker konstruiert hieraus einen Begriff des Viralen, den er zu einer mit der Allgegenwart des Todes konfrontierte universelle Seinsbedingung erklärt.

Unter dem Eindruck von Sasses Kritik fragte ich mich bei der Lektüre von Rolniks Zombie-Anthropophagie, ob die unterscheidende Bewertung gesellschaftlicher Subjektivitäten nach Kriterien der Pathologie und Gesundheit nicht gleichermaßen angezweifelt werden muss, zumal sie das „künstlerische, politische oder existenzielle Experimentieren“ (S. 76) dem aktiven Pol zuschlägt und zur Bedingung der Befreiung einer „perversen Instrumentalisierung“ von lebendiger Subjektivität erklärt (S. 76):

„Wir müssen erkennen, dass dieses Elend [der „kräftezehrende Wettlauf der Produktion“, SB] uns nicht nur die Luft abschnürt, sondern dass wir, was noch schlimmer ist, dieses Elend und diese Atemnot selbst hervorbringen, weil wir uns genüsslich an der Zuhälterei des Triebes, an seiner Ausbeutung durch das kolonial-kapitalistische System beteiligen.“ (S. 93)

Als habe Rolnik die Wirkungsweise jenes Virus, das die Welt derzeit in ‚Atem hält‘ (oder besser: ‚außer Atem bringt‘), bereits 2005 vorausgeahnt: Denn nun gelten die ohnehin diskriminierten Minoritäten, darunter die aus den Favelas rekrutierten, zumeist Schwarzen Dienstleister*innen und Hausangestellten, als besonders gefährdet. Allerdings passen deren Lebens- und Arbeitsbedingungen kaum auf das von Rolnik gezeichnete Profil flexibler Subjektivität, die sie wohl eher im (neo-)bürgerlich-liberal-kreativen Milieu verortet. Daher stellte sich, mit Sasse im Hinterkopf, beim Wiederlesen von Rolnik’s Buchs ein ununterdrückbares Unbehagen ob der metaphorischen Analogie von neoliberaler Subjektivität und viraler Ansteckung ein. Denn was bedeutet diese Analogie im Kontext einer autokratischen Politik, die offenbar kaum etwas gegen die massenhafte Ansteckung zum Schutze des von ihr aggressiv forcierten neoliberalen Produktions- und Ausbeutungssystems unternehmen will – und offenbar noch dummdreist verantwortungsloser agiert als Bolsonaros US-amerikanisches Pendant?

Darüber hinaus geht Rolniks Übersetzung der Virus-Metapher auch hinsichtlich des neoliberalen Prinzips der Vereinzelung nicht wirklich auf. Angesichts der noch viel größeren Ansteckungsgefahr für all jene, die nicht über solide oder gar luxuriöse Lebens- und Wohnbedingungen verfügen, könnte das so beschworene Bild von der ‚kranken Gesellschaft‘ den ohnehin um sich greifenden reaktionären Fatalismus noch forcieren: Bezeichnenderweise erhält Bolsonaro nicht nur von Seiten weißer, bürgerlicher Schichten, sondern auch von Seiten der verarmten Bevölkerung weiterhin Zustimmung.

Und wie ist nicht zuletzt die Gleichsetzung von neoliberaler Subjektivität und viraler Ansteckung im Kontext verstärkter polizeilicher Anrufung, mithin staatlicher Durchregulierung zu denken, von deren Infragestellung derzeit ja auch die ansonsten gesellschaftskritischen Geister in unerwarteter Allianz mit Twitter, der Wissenschaft und Judikative absehen?

Ich glaube, dass die von Rolnik getroffene Unterscheidung zwischen einem „aktiven“ und einem „reaktivem Pol“ anthropophager Subjektivität angesichts solcher Dilemmata nicht (mehr) ausreicht. So müssen in Zeiten, in denen wir uns selbst bei unseren liebsten friends mit dem ‚Ebola elbow hug‘ begnügen, vielleicht auch zeitgenössische Aneignungen historischer Dekolonisierungsdiskurse auf den Prüfstand: Dazu zählt eben auch der für meine Arbeit lange Zeit so entscheidende Gedanke der wechselseitigen Einverleibung – im Sinne jener überschlägigen Überprüfung von Ergebnissen, der sog. ‚Neunerprobe‘, welche de Andrade in seinem Manifest der Pau-Brasil-Dichtung (1924) vor knapp einem Jahrhundert zur Bedingung einer widerstandsbefähigenden „überbordenden Vitalität“ erklärt hatte.

 

31.03.2020 — Rosa Mercedes / 02