Facebook kollektivieren

von SVEN LÜTTICKEN

Ich schreibe dies am 26. März, dem Tag, an dem die „Vorverhandlung“ der Klage, die Jonas Staal und Jan Fermon gegen Facebook führen wollen, im HAU in Berlin stattfinden sollte. Inzwischen ist Collectivize Facebook natürlich längst Teil eines riesigen Archivs von abgesagten oder verschobenen Veranstaltungen, zumindest in der ursprünglich geplanten Form: die Website http://collectivize.org funktioniert, und um 19 Uhr wird eine vorab aufgezeichnete Einführung auf dem Livestream des HAU gesendet. Angesichts der zentralen Bedeutung von Versammlungen mit physisch anwesenden Personen (von Volkstribunalen bis zu Lesegruppen, von Eröffnungen bis zu Aufführungen, von Vorträgen bis zu Trainingseinheiten) bis hin zur zeitgenössischen ästhetischen und aktivistischen Praxis im allgemeinen ist es schwer, nicht übereinzustimmen mit Kader Attias Tirade auf Facebook (natürlich!) über neoliberale Mächte, die nicht mehr „die Polizei“ brauchen, weil „wir als perfekte Marionetten ihrer Fehler zu Hause bleiben werden“.

Die Vorverhandlung Collectivize Facebook ist ihrerseits auf Facebook angekündigt worden (natürlich!) und exekutierte so die Dialektik der Komplizenschaft zwischen Social-Media-Plattformen und kritischen Kulturveranstaltungen. Diese Art der Verstrickung unterstreicht nur den Punkt des Projekts – dass Facebook zu grundlegend für unser Leben ist, um in der Hand privater Investoren zu bleiben. In der Zwischenzeit, da Covid-19 immer mehr Menschen in physische Isolation versetzt, treibt dies sie (uns) noch mehr in die Arme korporativer, proprietärer Software, von Facebook bis Skype und ZOOM (auch wenn Medienautonomisten wie Geert Lovink uns ermahnen, Jitsi zu benutzen). Wie koproduzieren die verschiedenen Plattformen, was wir sind, sehen und tun, während wir für sie Überschüsse des Verhaltens produzieren?

Die Kollektivierung von Facebook wird erst jetzt zu einem dringlicheren Projekt, da seine Realisierung in der Fleisch-Zone blockiert wird, und Staal setzt, um es voranzutreiben, stattdessen Corona-kompatible Medien ein. Für eine Publikation, an deren Redaktion ich gerade sitze (der BAK-Reader Deserting from the Culture Wars), hat Dan McQuillan ein Manifest für eine Sozialisierung und Neuzusammensetzung der KI durch Volksräte geschrieben. Es wäre ein schwerer Fehler, das Projekt von Staal und Fermon oder McQuillans Vorschlag nun als Schnee von gestern zu betrachten, als malerische Relikte der Vor-Corona-Kultur. Wenn überhaupt, dann wurde ihre Bedeutung durch eine neue Welle der Akkumulation noch verschärft, weil die algorithmische Produktion von Subjektivität und Soziabilität sowie die biopolitische Regierung des Lebens durch patentierte Gesundheitsfürsorge an der Spitze des Katastrophen-Kapitalismus der Corona-Ära steht.

Kompromittiert und verstrickt wie wir sind, versuchen wir weiterzumachen und Heteronomie in Schattierungen von Autonomie umzumünzen. Kader Attia sprach von „perfekten Marionetten“. Es mag ermutigend sein, sich daran zu erinnern, dass Marionetten und Puppen von Freud bis Kokoschka, von Mike Kelley bis Chucky, schon lange ihr Potenzial für unheimliche Spielereien (und das spielerisch Unheimliche) offenbart haben.

 

 

 

26.03.2020 — Rosa Mercedes / 02