Training fürs Leben nach „live“

Kaum eine Medientechnik erlebt derzeit so viel Zustimmung wie das Livestreaming. Es kann als eines der zentralen Merkmale dessen gelten, was einmal „Corona Culture“ genannt werden wird. Da das Live-Prinzip mit physischer Ko-Präsenz, ohne dass das Kulturgeschehen weder sozial, ästhetisch noch ökonomisch vorstellbar ist, auf ungewisse Dauer suspendiert ist, greifen die Kulturinstitutionen, groß und klein, zum Mittel der Liveübertragung von Konzerten, Opern, Theaterstücken, Lesungen, Performances usw. Die jahrzehntelange Debatte über die wechselseitige Bedingtheit von künstlerischer Äußerung und „live“ anwesendem Publikum, von körperlicher Präsenz und ästhetischer Erfahrung, vor allem in den performativen Künsten, wie sie der Titel von Philip Auslanders Klassiker Liveness: Performance in a Mediatized Culture (1999) zusammenfasst, kommt hier einerseits zum Halten, könnte andererseits vor dem Hintergrund der Coronaverhältnisse aber auch neu kalibriert werden. Im Unterschied zu Live-Sportarten wie Fußball, für die sogenannte Geisterspiele keine dauerhafte Option darstellen, wird für die erwähnten kulturellen Formen und Formate das Spiel ohne Publikum zumindest als Krisen-Überbrückungsmodus gutgeheißen.

Viele der liebgewonnenen und engagiert vertretenen ästhetiktheoretischen Argumente über die Unverzichtbarkeit der Interaktion von Bühne und Zuschauerraum können nun offenbar für eine Weile zur Seite geschoben werden. Das ästhetische Argument weicht dabei zum einen dem ökonomischen, zum anderen muss die Rezeption unter den Bedingungen der Quarantäne schlicht neu konzipiert und praktiziert werden. Es bleibt abzuwarten, welche Effekte die abrupt vollzogene Durchsetzung des Livestream-Prinzips im Kulturbereich haben wird. Gut vorstellbar ist freilich, dass sich die physischen Spielstätten und Aufführungsorte nicht nur wegen der erlittenen wirtschaftlichen Schäden von der Krise nicht mehr erholen werden, zumindest nicht mit den (noch) aktuellen Betreiber*innen, denen die Insolvenz droht; leiden werden sie zusätzlich unter der jetzt stattfindenden kollektiven Einübung in den Livestream-Modus, der schon jetzt Züge einer komplexen medialen Transformation trägt.

Livevideostreamerin Lauren Hallanan

Livestreaming-Video-Dienste wie YouTube oder Twitter haben schon seit Jahren für diese Entwicklung den Boden bereitet. Die Hyperkultur der Influencer und anderer Internet-Celebrities hat daran entscheidenden Anteil. Die Popularität des Livestreaming, etwa in China, trägt dazu bei, massenhafte, suchtartige Abhängigkeiten unter User*innen zu erzeugen. Neuere verhaltenspsychologische Untersuchungen zu Computer- und Internet-Praktiken heben die Online-Identifikation sowohl mit den streamenden „live“-Künstler*innen als auch mit dem gestreamten Publikum hervor. Für eine dieser Studien wurden 338 Personen online befragt: zu den „subscales“ der Umfrage zählten „demographics, psychological factors (life satisfaction and loneliness), Big Five personality traits [d.h. Aufgeschlossenheit, Gewissenhaftigkeit, Geselligkeit, Empathie und emotionale Labilität und Verletzlichkeit], motivations, and problematic use of live video streaming services“. Unter den Resultaten stachen folgende heraus: Personen mit „neurotischer Persönlichkeit“ neigten dazu, Live-Video-Streaming „exzessiv“ zu nutzen, während dies nicht für Personen mit „angenehmer [agreeable] Persönlichkeit“ gelte; die „instrumentellen Motivationen“ wie Informationssuche oder Selbstdarstellung hätten wenig Beziehung zu den Suchtsymptomen, während „passive Motivationen“ wie „Interaktion, Eskapismus und Voyeurismus“ mit der Sucht verbunden seien.

Interaktion, Eskapismus und Voyeurismus – ist das die Rezeptur der Zukunft, auf die sich der Kulturbetrieb einstellen muss? Oder längst eingestellt hat? Als Parameter der Kulturindustrie und der Gesellschaft des Spektakels sind diese „Motivationen“ gut bekannt. Nun könnten sie, mit der vollen Legitimation des Notstands, die nächsten noch verbliebenen Residuen halbwegs selbstbestimmter kultureller Praxis austrocknen. Und während dies geschieht, laufen die Rechnerbatterien in den Serverfarmen der Nordhalbkugel heiß, um den ganzen „passiv motivierten“ Streaming-Traffic zu ermöglichen. Zur kulturellen und ökonomischen käme dann noch die ökologische Katastrophe. Vielleicht sollte man daher das Livestreaming auf das Nötigste beschränken: auf Tutorials im Gesundheitssystem, auf Tele-Meetings von Erkrankten mit ihren Angehörigen, auf nichtkommerzielle Online-Kurse in den neuen dezentrierten Schulen und Universitäten.  TH

 

 

 

 

21.03.2020 — Rosa Mercedes / 02