Zum Film „Zwischen Gebäuden“ (BRD 1988/89, Thomas Schultz)
Karl Heil in ZWISCHEN GEBÄUDEN (Regie: Thomas Schultz)
Das schönste an Freundschaften zwischen Filmemachern ist, dass man ab und zu von den Kollegen Hinweise bekommt auf Filme, die man selbst nicht kennt, die einem aber dann das Herz schneller schlagen lassen. So einen Hinweis erhielt ich in einer e-mail von Harun Farocki am 4. Februar 2004: „Lieber Thomas, ich weiss nicht, wie Du es mit Empfehlungen hältst. Alle Jubeljahre gibt es einen Film, für den ich unbedingt etwas tun will. In diesem Falle ist es von Thomas Schultz ZWISCHEN GEBÄUDEN, 72 Min, s/w. 35mm, schon von 1989. Wohl seither nie gezeigt, ich sage: ein Meisterwerk. An der Dffb gemacht, liegt bei der SDK. Weil Du ja einen Termin im Metropolis hast, vielleicht bist Du nun neugierig. Herzlichen Gruss, Harun.“ Meine Antwort erfolgte sogleich und hatte insbesondere auf den Titel abgehoben: „Das Thema Stadt und Urbanität im Film (hoffentlich handelt er davon?) interessiert mich zudem besonders, habe ja hier die Gruppe Cinepolis mitbegründet, die Architekturfilme zeigt.“ Harun antwortete darauf noch einmal kurz: „Der Film ist nach einem Text von Walser und hat mit Urbanistik zu tun, wie es halt Filme haben, die Straßen und Räume besonders abbilden, wie Ozu z.B. Es freut mich, dass Du den Film zeigen möchtest, Dein Harun“.
Thomas Schultz‘ ZWISCHEN GEBÄUDEN muss auch im Kontext der Filme von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet gesehen werden. Sowohl Farocki, Schultz, als auch der gleich erwähnte Johannes Beringer sind Unterstützer der Filme von “Straub-Huillet“, in deren Filmen sie mitwirkten, sie mit Artikeln unterstützten und deren Tradition für sich filmisch weiterentwickelten. Ihre Gemeinsamkeit: In der Form sind die Filme trocken, spröde, sperrig und arbeiten künstlerisch minimalistisch, asketisch, reduktionistisch, so wie es Minimal Art schon immer getan hat – vor allem aber mit einer Stilisierung der Sprache, oft emotionslos gesprochen. Filme, die viel von uns abverlangen, anstrengende Filme, die uns aber wieder das Sehen lehren, anders als die meisten Hollywood-Filme, die nur den Formenkanon verwalten. Ihre Filme sind in Zeiten der Billig-Supermärkte so etwas wie ein Tante-Emma-Laden, mit ‚Apothekenpreisen‘, aber eben auch mit dem Effekt einer Gesundung kranker Augen und Ohren.
ZWISCHEN GEBÄUDEN (D 1988/89, 72‘) von Thomas Schultz, entstanden kurz vor der deutschen Wiedervereinigung, dokumentiert radikal auch ein Berlin der 1980er Jahre, die Frontstadt Berlin, dessen Architektur und Menschen. Entsteht nach Sätzen des Romanfragments „Der Räuber“ von Robert Walser. Dieser Roman, geschrieben 1925, veröffentlicht erst 1972, spielt an auf Schillers „Räuber“, ein Lieblingsdrama von Walser. Genauer gesagt heißt es im Film noch vor der Widmung: „Aufenthalt in Sätzen des ‚Räuber‘-Entwurfs von Robert Walser“. Dieser Walser-Roman besitzt eine moderne, offene Form des Erzählens, Denkens, Träumens und am Rande Stehens, die der Filmregisseur mit dem urbanen Leben in Verbindung bringt.
Johannes Beringer, ein Mitstudent Farockis an der Dffb (Deutsche Film und Fernsehakademie Berlin), beschreibt das nüchtern registrierende Verfahren des Films: „Die Leinwand als Fläche nehmen – diese Art von ‚Frontalität‘ herstellen, wie es sie etwa bei Pasolini oder bei Hou Hsiao Hsien gibt. Die Kamera (wenn der Standort einmal gefunden ist) nicht verrücken, nicht bewegen: auf dem Ausschnitthaften beharren, Tableaus herstellen. Die Originaltöne sind wichtig – der ganze Stadtraum ist dann da. In das äusserlich Registrierbare, Vorgefundene (Orte, Strassen, Häuser, Räume) die Fiktion setzen, sie mit Personen besetzen: ein Stück Literatur nehmen, es transponieren. Sätze (extrem fragmentiert) aus ‚Der Räuber‘ von Robert Walser – und mehr noch: diese Walser-Figur (verkörpert von Karl Heil) in den Mittelpunkt stellen.“ 1 Thomas Schultz selbst beschrieb den Gehalt des Films wie folgt: „Begegnungen zwischen einem, der nicht weiß, was er will, und denen, die es wissen. Seine Ratlosigkeit lebt er entschlossen. Ohne feste Vorstellungen ist er radikal Mensch. Lose, liebt er alle Befestigten. Die haben es schwer, ihn loszulassen, nutzlos und unbenutzbar wie er ist.“ Architektur als poetischer Entwurf gegen die Vereinnahmung des Einzelnen durch die gesellschaftliche Gewährung von Obdach, das in Aussicht gestellt wird.
Es gibt eine Widmung am Anfang des Films, wo es heißt: „Dem Unverwahrten“. Das ist ein Schlüssel für die Interpretation. „Verwahren“ bedeutet – laut Duden – sicher und sorgfältig aufbewahren, für einen späteren Zeitpunkt aufheben, sichern. Das Unverwahrte ist eine Negation davon, gewidmet also dem Nicht-Gesichertem, dem Nicht-Sorgfältig-Aufbewahrtem. Darüber hinaus ist uns die Redewendung in der Form von „sich gegen etwas verwahren“ geläufig: d.h. mit Nachdruck gegen etwas protestieren; etwas energisch zurückweisen. Dieser Film ist auch dem Protest, der Revolte gewidmet. Ist sperrig in seiner Form, die auch Widerstand gegen eine unzureichende Gesellschaft einschließt, gegen gesellschaftliche Anerkennung und Bestechung – ein Plädoyer für Menschen, die sich entziehen, Widerstand leisten, individuell leben. Dieser Film ist eigensinnig. Dieser Film verlangt Arbeit von uns. Auf diesen Film muss man sich einlassen.
Wir haben im Zentrum den Protagonisten und wir haben Unfälle, Missgeschicke, Stürze, Lebensangst, Überleben im Beruf, Lebensbetrug, schwindende sexuelle Attraktivität, Begegnungen mit Frauen, immer wieder Treffen in Cafés – es sind existentielle Themen. In den Dialogen von Walser und auch in den Bildern von Schulz geht es an das „Eingemachte“. Wir hören z.T. offen ausgesprochene Charakterisierungen des Protagonisten durch andere, immer wieder wird er zur Rede gestellt, hart beurteilt, teilweise auf den Lebenserfolg gemünzt: „Er ist nicht der Richtige für dich“, „Wie geht es bei dir voran?“ und „Du bist langweilig“. Es geht dabei um das Wesentliche im Leben, um das, „was man im Leben will“, was den Kern unser Existenz betrifft. Es sind auch genau die Fragen, die die Philosophie stellt: Wer sind wir, woher kommen wir, wohin gehen wir? Hier die einstweilige Antwort: ein Leben als Kette von Stürzen. Aber auch: ein sich der Konvention entziehen!
Johannes Beringer beschreibt dies anhand der gewählten Filmform: „Die Potenz, die der Film entwickelt, kommt zuerst mal aus dieser Art von Stillstellung, die Thomas Schultz praktiziert: nach einem kurzen Wortwechsel, einer kurzen Aktion (etwa dem Aufhelfen eines auf der Strasse Liegenden) stehen sich die Akteure stumm und wie eingefroren gegenüber. Aber nicht als ‚still‘, sondern real. Normalerweise ein Moment von Peinlichkeit in der Wirklichkeit – eine Normverletzung. Was aber nicht heisst, dass dann nichts mehr passiert zwischen zwei Menschen, im Gegenteil. Gerade wenn sie nicht reden, die Konvention, die übliche Verbindlichkeit verlassen – sich als ‚Geistkörper‘ gegenüberstehen –, ist die oben genannte Potenz virtuell da, könnte sich manifestieren … Die ‚Peinlichkeit‘ macht vielleicht einem anderen Gefühl Platz: der Verlegenheit darüber, dass so viel unter der Konvention des Verkehrs, des Sprechens verborgen liegt, was sich nicht äussern kann. Ein enorm erotisierender Vorgang auch, wenn die ganze, brachliegende Potentialität durch diese Figur, die nichts will (den „Räuber“), zum Vorschein gebracht wird. An ihr, ihrem Verhalten, bricht sich die eingespielte Wirklichkeit, an ihr zerbricht die Norm. Die Frauen vor allem (die walserschen Servierfräuleins) haben Lust, dieser Figur – so im Vorbeigehen – kurz übers Haar zu streichen.
Nicht dass es nur diesen einen Typus von Einstellung gäbe – die ‚Stillstellung‘ ist wie interjektiert in den Ablauf oder vielmehr: das Mosaik der Handlung. Das Verzögerungsmoment ist eingesetzt, um diese Potenz zu lösen und überall sichtbar zu machen. Selbst in den Einstellungen, in denen sich keine Akteure aufhalten: die menschliche Anwesenheit ist spürbar, allumfassend (der Beton der Balkonmauer spricht noch davon). Und doch auch, als anderes Moment der Stillstellung: die Drohung der Verlassenheit, der Öde. Der Verdinglichung. Das Dasein der Dinge kommt auch ohne Menschen aus.“
Letzterem möchte ich noch genauer nachgehen. Ein Film als visuelles Medium handelt immer von anwesenden Dingen / Figuren und von abwesenden Dingen / Figuren. Was zeige ich, was spare ich aus? Wie kadriere ich, wo lege ich den Rand des Bildes hin, betone ich dabei das Ausschnitthafte (wie Johan van der Keuken)? Ein jeder Film stellt ebenso wie die Philosophie immer auch die Frage nach dem Verhältnis von Präsenz und Abwesenheit. So zeigt Zwischen Gebäuden uns niemals die Unfälle der Menschen selber, sie fehlen so auffällig, dass wir dieses Fehlen als Leerstelle in unser Bewusstsein bekommen.
Und zugleich zeigt er uns diese Dialoge in einem ganz bestimmten, bestimmbaren architektonischen Umfeld, auf das bereits der Titel hinweist. Damit stellt der Film sich eine philosophische Frage: Wo leben wir? In was für einem Dekor? Es ist eine unbarmherzig registrierende Bestandsaufnahme: Frontstadt Berlin, Beton, Autolärm, feindliche Urbanität, Friedhof mitten in der Stadt, traurige Tapetenmuster, Ödnis, Plastikstuhl, 80er Jahre – politisch bleierne Zeit, Café, Schwimmbad, Schule, Geldautomat, Krankenwagen. Diagnose einer kranken Gesellschaft.
Zu der Form der Fragmente, dem Fragmentarischen, den kurzen Sentenzen, die wohl alle schon bei Robert Walser vorhanden waren, setzt der Filmemacher die stilisierte Sprechweise, die Szenen des bewegten Unbeweglichen, merklich Stillgestellten, aber eben nicht Eingefrorenen. Es ist wie angehalten in der Zeit, aber eben doch nicht ganz. Es gibt aber eine zeitliche Gesamtstruktur, die spröde und lückenhaft ist und eine bestimmte Wirkung erzielt, wie Beringer betont:
„Das ist ein anderes Verdienst des Films: dass er die zeitlich-lineare Struktur aufbricht, ihre Unerbittlichkeit als Norm begreift. Etwas folgen lässt, was bereits geschehen ist. Oder etwas geschehen lässt, was noch folgen wird. Die Abfolge so fragmentiert, dass die Möglichkeitsform aufscheint. Unvollendetes Futur als Zeitform des Films. Offengehalten in dem Stillgestellten. (Aber danach auch schon vergangen.) Damit ist ein starker Gegensatz gegeben. Ein ‚Spiel‘ mit dem Eingespielten der Wirklichkeit. Ein potentielles Daraus-Heraustreten. Eine Figur, die nicht vereinnahmt werden kann. Die für sich ist, in dieser beharrlichen Widersinnigkeit. (Der Widersinn ist ihre Existenzweise.) Ein Fremdkörper, ein Fremdgeist – scheel angesehen von den ‚Einheimischen‘. Von Frauen umkreist – aber eben nicht so richtig benutzbar. Selbst wenn sie sagt ‚Wollen Sie mich heiraten?‘, geht es mehr um die Worte, den Augenblick – die Erotik, die dadurch darin aufblüht. (So fällt denn auch ein Schuss, unhörbar – einer der Frauen wurde es zuviel, der Vortragende fällt von der Kanzel.) Aber diese Figur – der ‚Räuber‘ – besitzt eine Bankomat-Karte und bezieht sein Geld aus dem Automaten. Immer wieder hilft er Personen, die auf der Strasse liegen, auf. Öfter mal ist auch der Rettungsdienst im Einsatz. Das Unglück (das schlecht Allgemeine) liegt auf der Strasse, ist mit Händen zu greifen. Wozu sich zwanglos ein Zitat aus ‚Die Notizen‘ von Ludwig Hohl fügen ließe: ‚Das Unglück allein ist noch nicht das ganze Unglück; Frage ist noch, wie man es besteht. Erst wenn man es schlecht besteht, wird es ein ganzes Unglück. Das Glück allein ist noch nicht das ganze Glück.‘“
ZWISCHEN GEBÄUDEN, Regie: Thomas Schultz, Buch: Thomas Schultz, Bärbel Freund, Kamera: Reinhold Vorschneider, Darsteller: Karl Heil, 72‘
1 Dieses und die folgenden Zitate aus: Johannes Beringer, in: shomingeki Filmzeitschrift 15 (Frühling/Sommer 2004). 1
31.05.2025 — Rosa Mercedes / 07