Recht auf Öffentlichkeit – Zugang zu TV-Archiven

Volker Pantenburg


Idee und Montage: Vivien Buchhorn und Merle Kröger, produziert für das Symposium „Accidental Archivism. Shaping Cinema’s Futures with Remnants of the Past“, Arsenal – Institut für Film und Videokunst, Berlin, 9. und 10. Juni 2023.

 

I.
Nach dem Tod von Harun Farocki im Sommer 2014 übergab mir Johannes Beringer, in den 1970er Jahren an vielen von Farockis Filmen als Cutter oder Tonmann beteiligt, eine Tüte mit Materialien. Unter den Drehbüchern, Rundschreiben an das Team und Projektentwürfen aus der Zeit bis 1982 fand sich auch ein zweiseitiges Dokument mit dem programmatischen Titel „Was getan werden soll“. Farocki schreibt darin im Auftrag einer nicht näher definierten Gruppe und ruft zur Gründung einer selbstorganisierten, unabhängigen „Einrichtung“ auf, die sich als Archiv dokumentarischen Materials versteht. In einem Abschnitt über den „Dokumentenwert von Filmen“ heißt es: „Die Millionen Kilometer, die jährlich bei Film und TV produziert werden, sind wenig geeignet, die wirkliche Welt so zu dokumentieren, dass sich mit den Quellen arbeiten lässt.“ Die geplante (aber nie verwirklichte) Einrichtung sollte, als Archiv und Produktionsstätte zugleich, Abhilfe schaffen. (vgl. hier)
Farockis Papier, begleitet von einer „Umfrage“, war als Rundbrief konzipiert; im Nachlass sind verschiedene Reaktionen auf die Initiative dokumentiert. Besonders frappierend ist ein Antwortschreiben von Joachim von Mengershausen vom 26. Januar 1976. Von Mengershausen, Redakteur in der Abteilung „Fernsehspiel“ des WDR und Co-Produzent von Filmen Fassbinders und Wenders‘, aber auch von Sam Fullers Tatort-Folge Tote Taube in der Beethovenstraße (1973), wendet ein, dass es ein Archiv, wie es Farocki vorschwebe, doch längst gäbe – in Gestalt der Senderarchive des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Man müsse nur den Zugang neu organisieren. Sein Schluss, ironischerweise auf Papier mit WDR-Briefkopf vermerkt: „Kurz, ich fände, man sollte einiges dransetzen, die Filmarchive des Fernsehens so öffentlich zu machen wie Bibliotheken mit all dem, was dazu gehört: vernünftige Archivierung, Festhalten der Entstehungsdaten etc., also eine zumindest partielle Enteignung des Fernsehens, was sich sicher auch nicht allzu schwer politisch begründen ließe.“ (link)

Eine solche Enteignung hat in den 45 Jahre seit von Mengershausens Vorschlag nicht stattgefunden. Wer als Kurator*in, Festival*leiterin, Kinobetreiber*in oder Filmemacher*in Zugang zu den archivierten Filmen und Sendungen verlangt, steht nach wie vor vor einer Reihe von Hürden: Schon die Recherche der Bestände gestaltet sich schwierig; auf die Epiphanie eines erfolgreichen Funds folgt meist die Ernüchterung angesichts der Höhe der Nutzungsgebühren, die für die Vorführung eines Films verlangt werden. Enteignet wurden nicht die Sender, sondern die Öffentlichkeit. Was mit öffentlichen Geldern produziert wurde, hat sich nach der Ausstrahlung de facto in Sendereigentum verwandelt. Verschärft hat sich die Lage dadurch, dass die Auswertung der Archivbestände seit geraumer Zeit in kommerzielle Tochtergesellschaften der Sender ausgelagert ist, die sich die „360-Grad Vermarktung“ (WDR mediagroup) der Programmbestände auf die Fahnen geschrieben haben. Die Öffentlichkeit wird nach der beschriebenen ersten Enteignung also erneut zur Kasse gebeten: Ungeachtet der Gebührenfinanzierung der Programminhalte sollen auch der Zugang und die Vorführung Profit erwirtschaften. Für ein kommunales Kino mit engagierter Leitung, aber knappem Budget ist das Zeigen unter diesen Bedingungen unmöglich. Dass es in Einzelfällen gelingt, durch Bekanntschaften und vertrauliche Verbindungen in die Sender Schlupflöcher zu finden, hilft nicht weiter. Nötig und überfällig ist eine verbindliche und strukturelle Lösung für alle, keine individuellen und informellen Ausnahmevereinbarungen unter der Hand.

 

II.
In den letzten Jahren haben auch die Sender gemerkt, dass die Politik der verschlossenen Archive kurzsichtig ist. Die heutige Generation von digital natives ist gewohnt, dass „Content“ nur drei (besser zwei) Clicks weit entfernt ist. „Fernsehen“ als lineares Medium mit festem Programmschema kennen sie nur noch aus den Erzählungen ihrer Großeltern. Es ist nicht mehr vermittelbar, dass Inhalte hinter (virtuellen) Türen digitalen Staub ansetzen. Der übliche Hinweis auf mangelnde Kapazitäten und ungeklärte Rechtsverhältnisse seitens der Sender ist nachvollziehbar, aber unbefriedigend. Wo die Kapazitäten fehlen, kann die Öffnung für interessierte Wissenschaftler*innen, filmkulturellen Akteur*innen oder Laien Abhilfe schaffen. Die kuratorische Expertise ist da, aber oft eben nicht in den Sendern, die alle Hände voll zu tun haben mit dem laufenden Programmbetrieb. Und wenn man die kommerzielle Nutzung ausklammert und sich auf den gemeinnützigen Einsatz in Kultur und Bildung konzentriert, sollte es möglich sein, Rechtefragen, die bei mehrere Jahrzehnte alten Produktionen ohnehin oft nicht mehr zu klären sind, auszuklammern. Whatever happened to Bildungsauftrag?
In einem Gespräch mit iRights im Herbst 2019 gab Rabea Limbach, Koordinatorin des Projekts SWR retro und heute beim „Deutschen Rundfunk Archiv“ in Potsdam, folgende Einschätzung: „Aus meiner Sicht geht es in dem ganzen Urheberrechtsdiskurs in Deutschland sehr viel um die Rechte des Einzelnen und zu wenig um die Interessen der Gemeinschaft. Wir haben einen beitragsgeförderten Rundfunk und ich persönlich bin der Überzeugung, dass die Gesellschaft bessere Möglichkeiten haben müsste, auf die Produktionen zuzugreifen.“ (*) Gemeinnützige Vereine wie Wikimedia fordern ebenfalls freien Zugang zu Wissen und Bildung, eine Initiative der AG Dok setzt sich für ein neues Finanzierungsmodell von Dokumentarfilmen ein, das den dauerhaften Zugang der entstehenden Filme unter Creative Commons-Lizenzen sichert.
Seitens der Sender machte „SWR retro“ 2019 den Anfang, Programmbestände aus der Zeit vor 1966 online frei zugänglich zu machen – wenn auch weitgehend ohne kuratorische Rahmung und historische Kontextualisierung. Inzwischen wird das Projekt auf ARD-Ebene fortgeführt. Das ZDF – nicht nur durch eine Redaktion wie „Das kleine Fernsehspiel“ verantwortlich für experimentelle Produktionen, die zur Geschichte des Kinos ebenso wie der des Fernsehens gehören – hat die Digitalisierung seines Archivs vor kurzem abgeschlossen. In einer gemeinsamen Initiative des Senders mit der Universitätsbibliothek Leipzig werden in absehbarer Zeit alle Metadaten der Archivbestände online gestellt und durchsuchbar gemacht. Zumindest die erste Tür wäre damit geöffnet, und es steht zu hoffen, dass die dann mögliche Kenntnis der Bestände eine nochmals erhöhte Nachfrage nach sich zieht. Wenn die Öffentlichkeit schon im Katalograum ist, wird sie auch Mittel und Wege finden, die weiteren Türen zu öffnen und an die Sendungen und Filme selbst heranzukommen.

 

III.
All das sind Schritte in die richtige Richtung. In einer Situation, in der die Existenz der Öffentlich-Rechtlichen – gerade von rechts – grundsätzlich in Frage gestellt wird, kann der Reichtum dessen, was an Wissen, Erfahrung und Kritik in den Senderarchiven abgelegt ist, zum entscheidenden Argument werden. Statt den Wert der Bestände ökonomisch zu interpretieren und in Minutenpreisen zu kalkulieren, muss der kulturelle und edukative Wert in den Vordergrund rücken, der sich nicht in Zahlen konvertieren lässt.
Zwar sind TV-Archive dem Selbstverständnis nach Produktionsorte und haben keinen offiziellen Gedächtnisauftrag wie Kinematheken. De facto sind sie im Laufe ihrer Geschichte jedoch längst zu Archiven geworden. Ein Projekt wie „Die fünfte Wand“ – „nonlineare Biografie, Fernseharchiv und Rechercheplattform zugleich“ (https://die-fuenfte-wand.de/about) – macht die drei Jahrzehnte umspannende Fernseharbeit der Filmemacherin, Reporterin und Moderatorin Navina Sundaram beim NDR in explorativer und experimenteller Weise online zugänglich. Die Website ist ein Prototyp, wie eine markante und bisher unsichtbare Spur von Widerstand, Diversität und kritischer Beharrlichkeit gezeigt und von heute aus kuratorisch gerahmt werden kann. Nur die Öffnung für die Öffentlichkeit ermöglicht, dass die Arbeiten nachdrücklich in die Gegenwart geholt und für aktuelle Zusammenhänge aktiviert werden. Lehrer*innen, aber auch Vermittler*innen im weiteren Sinne können darauf zugreifen und, wie es auf der Website heißt, „deutsche Migrations- und Mediengeschichte“ zugleich kennenlernen. Im kuratorischen Zugriff ist ein Vorschlag, weiterzudenken, die Filme und Dokumente mit eigenen Erfahrungen zu verbinden und im Hier und Jetzt operativ werden zu lassen.
Das Projekt zu Navina Sundaram, konzipiert und verwirklicht von Merle Kröger und Meike Bernien, zeigt auch: In den offiziellen Archiven sind auch die widerständigen und kritischen Stimmen dokumentiert. Dafür gibt es weitere Beispiele: Im WDR-Archiv fanden wir im Rahmen eines Forschungsprojekts des Harun Farocki Instituts 2018 die zurzeit einzig auffindbare 16mm-Kopie des Films ON AFRICA, einem dekolonialen Thesenfilm von 1970, den der Afroamerikaner Skip Norman nach seiner Ausbildung an der DFFB drehte. Georg Alexander und die Filmredaktion des WDR machten es möglich, dass der Film – gemeinsam mit Helma Sanders Brahms‘ DIE INDUSTRIELLE RERSERVEARMEE und Richard Besrodinoffs BLOODY RIVER im Westdeutschen Fernsehen gezeigt wurde – an einem Samstagabend um 21:00 Uhr.
Redakteur*innen wie Ebbo Demant (SWR), Inge Classen (ZDF/3sat), Werner Dütsch (WDR) und festangestellten Dokumentaristen wie Klaus Wildenhahn (NDR) ist zu verdanken, dass in den TV-Archiven ein erheblicher Teil der Dokumentarfilmgeschichte liegt. Denn die Filme unzähliger Dokumentarfilmemacher*innen sind unter maßgeblicher Beteiligung der Sender entstanden – sei es in Form von Co-Produktionen, sei es durch die Zusicherung, den Film anzukaufen und auszustrahlen. Überall dort, wo kritische Inhalte aus der Latenz des Archivs heraustreten und zugänglich werden, verwirklicht sich der die Sender definierende Anspruch auf Teilhabe. Die Bedingungen für eine solche Teilhabe zu schaffen, muss das gemeinsame Interesse der Sender und ihrer Nutzer*innen – kurz: der Öffentlichkeit – sein.

Der Text wurde geschrieben für die Duisburger Filmwoche 2021 und zuerst im Katalog des Festivals publiziert. Er gibt Überlegungen wieder, die bei der Arbeit an zwei Symposien zum Thema „Recht auf Öffentlichkeit“ im Herbst 2020 und 2021 in Berlin entstanden sind und im Kontext des Projekts „Archive außer sich“ des Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V. stehen. Dank an Merle Kröger und Vivien Buchhorn.

09.08.2023 — Rosa Mercedes / 07