Harun Farocki – „Politik der minimalen Intervention“

Peter Geimer

PETER GEIMER

Zwei Jahre vor der Erstausstrahlung von Apocalypse, la 2ème Guerre mondiale [einer sechsteiligen internationalen Fernsehproduktion zum Zweiten Weltkrieg unter Einsatz von größtenteils koloriertem Originalfilmmaterial, Regie: Isabelle Clarke, 2009]  zeigte Harun Farocki auf dem Internationalen Filmfestival im südkoreanischen Jeonju seinen Film Aufschub. Der Film, wie oft bei Farocki, präsentiert keine eigenen und neuen Bilder, sondern montiert historische Filmaufnahmen – die Dokumentation des niederländischen Durchgangslagers Westerbork durch den Lagerinsassen Rudolf Breslauer im Frühjahr 1944. Das Lager, ursprünglich eine Unterkunft für aus Deutschland geflüchtete Juden, wurde 1940 nach der Besetzung der Niederlande durch die Nationalsozialisten in ein sogenanntes Durchgangslager umfunktioniert. Etwa zehntausend Insassen hielten sich jeweils im Lager auf, bevor sie von dort nach Bergen-Belsen, Theresienstadt oder Auschwitz deportiert wurden. Es gab Fabriken, wissenschaftliche Labore, ein Theater, ein Krankenhaus, einen Kindergarten. Sowohl die Patienten als auch die Ärzte des Krankenhauses waren Lagerinsassen. In der Aufnahmestelle des Lagers waren es Häftlinge, die ihre neu angekommenen Mithäftlinge registrierten, im Theater spielten Häftlinge vor ihren Mitgefangenen, und auch in der Lagerpolizei dienten Insassen. 1944 beauftragte der Lagerkommandant, der SS-Offizier Albert Gemmeker, den Fotografen Breslauer, eine filmische Dokumentation des Lageralltags zu erstellen. Breslauer drehte im Frühjahr 1944 mit zwei 16mm-Kameras. Erhalten haben sich 90 Minuten kaum bearbeiteten Filmmaterials, das der Ordnung der Schauplätze – Aufnahmestelle, Fabrik, Theater, Arbeit auf dem Feld etc. – folgt. Aus diesem Material hat Farocki eine vierzigminütige Montage erstellt.

Harun Farocki, Filmstill aus Aufschub, 2007

Farockis Vorgehen ist „gleichermaßen minimalistisch, bescheiden und subtil“, „deutlich und leise zugleich“ – eine „Politik der minimalen Intervention“.1 Als erstes Bild erscheint eine schwarze Leinwand, darauf in weißer Schrift das Wort „Silent Movie“ – eine Anspielung auf die Frühzeit des Kinos, zugleich ein Hinweis auf die Dominanz der Bilder und die Abwesenheit des Tons. „Nachdem ich immer wieder Marschkolonnen gesehen hatte, denen man einen Ton aus dem Studio unterlegt hatte und Musiken gehört hatte – Eislers Paraphrase des Deutschlandliedes bei Resnais, Lieder auf Hebräisch bei den Bildern vom Ghetto bei Leiser – nahm ich mir vor, einen stummen Film zu machen“.2

Farockis „Respekt vor dem stummen Material“,3 sein Verzicht auf eine nachträgliche Vertonung der Bilder, lassen Aufschub als Solitär in der Landschaft des historischen Dokumentarfilms erscheinen. Das Vorgehen ist gleichermaßen radikal und zurückhaltend, ein Akt des Gewährenlassens, der die gegebene Stummheit der Bilder auf sich beruhen lässt, sie in ihrer Wiederholung aber doch kommentiert. „Die Bilder, die Rudolf Breslauer, ein Fotograf aus München, der mit seiner Familie in die Niederlande geflüchtet war, auf Anordnung des Lagerkommandanten aufgenommen hatte, sind stumm. Ich nahm mir vor, nur dieses Material zu benutzen und innerhalb der Sequenzen, die zitiert werden, nichts hinzuzufügen oder wegzulassen“.4 Zur „Politik der minimalen Intervention“ gehört neben dem Verzicht auf Ton auch die Beibehaltung der historischen schwarz-weißen Farbskala des Films. Ein Nachkolorieren der Bilder würde der Dramaturgie von Aufschub in jeder Hinsicht zuwiderlaufen.

Breslauer filmte das Ein- und Ausfahren der Züge, das Treiben am Bahnsteig, wenn ein weiterer Abtransport von Häftlingen vorbereitet wurde. Andere Einstellungen zeigen die Häftlinge bei gymnastischen Übungen im Freien, bei der Feldarbeit, im Labor oder in der Fabrik, wo sie ausrangierte Motoren zur Wiederverwertung der Rohstoffe demontieren: Flugzeugteile werden auseinandergenommen, Batterien recycelt, das Kupfer aus elektrischen Drähten gezogen. Auf diesen Bildern sieht man die Häftlinge „eine fast sinnlose Arbeit mit großer Sorgfalt ausführen, um nicht in den Osten abtransportiert zu werden […].“ Auf diesen Zusammenhang spielt Farocki im Titel des Films an: Die Arbeit gewährt einen „Aufschub“, solange gearbeitet wird, ist die bevorstehende Deportation noch einmal abgewendet. „[…] auch der Filmaufnahme ist anzusehen, daß sie einen Aufschub bewirken soll. Es kann nur schlimmer werden, darum wird die Gegenwart im Lager filmisch in die Länge gezogen.“5 Einige Einstellungen dreht Breslauer in Zeitlupe – wie um in dieser symbolischen Verlangsamung zusätzlich Zeit zu gewinnen.

Harun Farocki, Filmstill aus Aufschub, 2007

Beim Betrachten von Aufschub nimmt man die anhaltende Stummheit der Bilder wahr – vierzig Minuten Film ohne Stimmen, Musik oder Geräusch. Man sieht, wie die Dargestellten sich über die Leinwand bewegen, aber zugleich entrückt die Abwesenheit des Tons sie in eine unerreichbare Ferne, eine Abgeschiedenheit wie tief unter Wasser. Insbesondere die Szenen, die uns die Gefangenen als Musiker und Sänger auf der Bühne des Lagers zeigen, kehren diese Stummheit hervor. Man sieht den Pianisten die Tasten des Klaviers anschlagen, aber kein Ton dringt bis zu uns hervor; der Chor singt und schweigt zugleich, eine Dirigentin bewegt den Taktstock im Rhythmus einer unhörbaren Musik. Und doch ‚fehlt‘ diesen Bildern nichts. Die Abwesenheit des Tons ist kein zu behebender Mangel: Sie gibt zu verstehen, dass hier etwas Vergangenes zu sehen, aber nicht wieder zurückzuholen ist.

Thomas Elsaessers Wort von der „Politik der minimalen Intervention“ benennt beide Motive des Verfahrens genau: die Behutsamkeit der Eingriffe, zugleich aber ihren Status als ‹Politik› und bewusste Entscheidung für eine bestimmte Art des Umgangs mit historischen Bildern. Die Interventionen sind minimalistisch und doch nehmen sie eine entschiedene Re-Strukturierung des Materials vor. Farocki lässt Breslauers Film noch einmal ablaufen, stellt aber Sequenzen um, unterbricht und verlangsamt Einstellungen, indem er sie zum Standbild einfriert. „Die Montage“, schreibt Antje Ehmann, „folgt dabei der von Farocki häufig eingesetzten Loop-Struktur: er präsentiert eine Sequenz, stellt sie in einen Kontext mit anderen Sequenzen, liefert Verständnishinweise, um die gleiche Sequenz dann später, zum Teil mehrfach, wieder aufzugreifen, wobei sie sich jeweils neu entschlüsseln wird.“6 All das geschieht innerhalb der Bilder: Aufschub ist ein Film über einen Film, aber zugleich sind kommentierende und kommentierte Bilder identisch, lässt Farocki die Bilder des Films sich selbst repräsentieren.

Das wäre nicht möglich ohne das Hinzutreten der Sprache. Wie im klassischen Stummfilm kommentieren zwischengeschaltete Texttafeln das Gezeigte. Kein Bild, so wurde hier wiederholt festgestellt, ist aus sich selbst heraus evident. Die Sprache strukturiert das Gesehene, zugleich vermag sie aber nicht, es restlos zu kontrollieren. „Das hauptsächliche filmische Verfahren“, so beschreibt Farocki eine übliche Praxis der Text-Bild-Montage im historischen Film, „besteht darin, dass ein Text etwas darlegt und Fotografien oder Filmausschnitte ihn bebildern […]. Wenn etwa von Hindenburg die Rede ist, sieht man diesen mit seinem Sohn durch einen Park gehen.“7 Diese ans Tautologische grenzende Art der Montage will die Bilder zeigen lassen, was zugleich auch der Text besagt. Der Kommentar sagt: „Hindenburg“, das Kamerabild zeigt: „Hindenburg“. Sprache und Bild sollen zur Deckung kommen, um eine stabile Wirklichkeit vor Augen zu führen, deren scheinbare Evidenz jede Vermittlungsarbeit, jedes Eigenleben von Text und Bild vergessen lässt.

An anderer Stelle bemerkt Farocki, „wie die Bilder unter einer Last ächzen, wenn man in sie hineinspricht.“8 In Aufschub wird nicht ‚in die Bilder hinein‘ gesprochen. Es gibt kein Voiceover, die Sprache interveniert als geschriebener Text zwischen den Bildern. „Die Einblendungszeit geht dabei weit über eine durchschnittliche Lesedauer hinaus“, sodass die Schrifttafeln den Bilderfluss durch reflexive Einschübe unterbrechen.9 Wiederholt setzt Farocki die Texttafeln ein, um die Bilder des Films zu befragen: „Sind diese Bilder eine Beschönigung?“, heißt es einmal. Da Westerbork kein Vernichtungslager war, entsprechen manche der Aufnahmen nicht der Vorstellung, die man vom Alltag in einem Lager der Nationalsozialisten hat. Eine wiederkehrende Sequenz zeigt Frauen bei Gymnastikübungen im Freien, in der Mitte des Kreises die Vorturnerin. Sie tanzt mit ausgestreckten Armen, hüpft von einem Bein auf das andere, dreht sich lächelnd in die Kamera. „Diese Bilder werden kaum je gezeigt“ / „wohl um ein falsches Bild von den Lagern zu vermeiden.“ Auch solche „Augenblicke der Selbstbehauptung“, so der Kommentar, gelte es jedoch wahrzunehmen. Es folgen Aufnahmen vom belebten Bahnsteig vor der Abfahrt eines Zuges: Lagerinsassen irren mit ihren Koffern umher und suchen nach der Nummer des Waggons, in den sie einsteigen sollen. „Diese Bilder werden eher gezeigt“, heißt es.10 Die Schrift übernimmt hier die Regie über den historischen Status der gezeigten Bilder: Der Kommentar kennt bereits ihre spätere, historische Rezeption in anderen Zusammenhängen, und er weiß auch von anderen, späteren Bildern, die sie überlagern, auch wenn sie in Breslauers Filmaufnahmen nicht unmittelbar zu sehen sind. „Bilder, die wir aus anderen Lagern kennen, überlagern die aus Westerbork.“ Diese Beobachtung bezieht sich auf eine Sequenz, die auf dem Feld arbeitende Häftlinge während einer Ruhepause im Gras liegend zeigt. „Auf das Bild der Mittagsruhe – legt sich das Bild von den Toten unter freiem Himmel in Bergen-Belsen“.

Aufschub setzt Breslauers Aufnahmen in ein Verhältnis zur Zeit. Wie alle historischen Filme verweisen die Aufnahmen Breslauers auf den Zeitpunkt ihrer Entstehung, der Kommentar benennt aber auch die Gegenwart, aus der heraus wir sie betrachten. Aufschub reflektiert Breslauers Film, zugleich aber auch „unser Wissen um die Bilder des Holocaust.“ Es geht darum, „wie wir ein Bild aus dem ‚Archiv‘ ‚sehen‘.“11

Der Kommentar zu einer Sequenz in Aufschub, die Männer und Frauen beim Einsteigen in die abfahrbereiten Züge zeigt, erinnert daran, dass die Präsenz der Kamera die dargestellten Ereignisse möglicherweise mitbestimmt hat. Die Gefasstheit der Dargestellten, die ohne Anschein innerer Erregung den Zug besteigen, könnte ein Hinweis sein, dass sie ihr Gefilmtwerden als Zeichen der Entwarnung verstanden haben. „Vielleicht hat die Anwesenheit der Kamera eine Wirkung getan“ / „Konnte es am Ziel so schlimm sein wie befürchtet, wenn die SS die Abfahrt filmen ließ?“ Eine solche Aufmerksamkeit für die Bedingungen des Films und die Präsenz der Kamera sucht man in [Peter] Jacksons Montage [in They Shall Not Grow Old, 2018] vergebens. Das zeigt nicht nur der völlige Verzicht auf Hinweise zu Herkunft, Autorschaft und Entstehungsbedingungen der kompilierten Filme, sondern insbesondere ein Detail, das die Dramaturgie der audiovisuellen Animation merkwürdig konterkariert.

Wie bereits beschrieben, gehört zu dieser Dramaturgie das nachträgliche Vertonen der stummen Dialoge. Es fällt aber auf, dass in den historischen Filmen oftmals gar nicht gesprochen wird. In diesen Sequenzen fährt die Kamera eine Gruppe von Soldaten entlang, die aufmerksam und schweigend in das Objektiv blicken: Die Gefilmten wussten, dass der Apparat keinen Ton aufzeichnen konnte, und haben wohl deshalb auf das Sprechen in die Kamera verzichtet. Das Bewusstsein der Dargestellten, Akteure eines Stummfilms zu sein, ist den Bildern hier unmittelbar anzusehen. Insofern widersprechen in diesen Passagen die historischen Aufnahmen bereits von sich aus den Versprechungen ihrer Animation.

Harun Farocki, Filmstills aus Aufschub, 2007

Eine der in Aufschub mehrfach wiederholten Sequenzen wird zum Gegenstand einer beinahe detektivisch anmutenden Lektüre (und wenn an dieser Stelle das Wort ‹detektivisch› f.llt, geschieht das in Erinnerung an Kracauers Sympathie für die Figur des Ermittlers Arnold Pike und seine Wahrheitssuche im scheinbar nebensächlichen Detail). Die Sequenz zeigt eine alte Frau, die auf einer hölzernen, mit großen Rädern versehenen Liege am Bahngleis entlanggefahren wird. Der Kommentar hält fest: „Auf dem Koffer der Frau eine Aufschrift“. Der Film wird angehalten, und ein unscharfes Standbild lässt die Aufschrift auf dem Koffer eher erahnen als erkennen. Der Kommentar: „F oder P Kroon ist zu entziffern und 26. ? 82 oder 92“. Anhand der Transportliste des Zuges konnte die alte Frau als Frouwke Kroon identifiziert werden, geboren am 26. September 1882. Mit dem Eintrag in der Liste ließ sich auch das Datum der Filmaufnahmen, der 19. Mai 1944, bestimmen. Die Verankerung der Bilder in der Zeit macht aus ihnen ein Zeugnis, das über das bloße Wissen der Datierung weit hinaus geht: „Die Schrift auf dem Koffer macht es möglich, den Tag der Filmaufnahme zu bestimmen: / 19. Mai 1944 / An diesem Tag winkte ein Kind zum Abschied / half ein Mann, die Tür des Güterwagens zu schließen, mit dem er deportiert wurde /An diesem 19. Mai 1944 ging ein Zug mit 691 Menschen von Westerbork ab“. Der Film bewahrt diese Szenen auf. Man kann sie wiederholen und aus der Distanz betrachten, zugleich bestätigt der historische Film die Unmöglichkeit, die Ereignisse aus der Vergangenheit zurückzuholen. In dieser zweifachen Bestimmung zeigen die Aufnahmen Breslauers und ihre Remontage durch Farocki noch einmal die Möglichkeiten und Grenzen des historischen Bildes: seinen Status zwischen Vergegenwärtigung und Unwiederholbarkeit, Nähe und Distanz, Sichtbarkeit und Entzug. Jeder Versuch, diese zweifache Bestimmung des Bildes im Zeichen seiner Wiederbelebung aufzuheben, erzeugt nur eine Welt aus Untoten.

In seinen Überlegungen zur Montagetechnik Farockis formuliert Georges Didi-Huberman eine bemerkenswerte These. Obwohl Farocki in beinahe allen seinen Arbeiten vorgefundene Bilder übernehme, seien diese trotzdem nicht Teil eines künstlerischen Œuvres geworden. Die Bemerkung richtet sich auf die Rolle Farockis „als Produzent von Werken der Kunst, die an jenen Orten der Kulturindustrie zugänglich sind, die man ‚Galerien‘ oder ‚Museen‘ nennt.“12 Tatsächlich hat Farocki diese Rolle erst in den letzten Jahrzehnten seines Schaffens angenommen. Die zweifache Teilnahme an der Documenta, Einzelausstellungen in großen Museen moderner und zeitgenössischer Kunst in New York, Seoul, Tel Aviv, Bregenz oder Köln dokumentieren diese Entwicklung. Die frühen Arbeiten entstanden für Programmkinos und Sendeanstalten, erst später wurden sie in Räumen der bildenden Kunst gezeigt, zugleich kamen neue Arbeiten hinzu, die bereits im Hinblick auf ihre museale Präsentation konzipiert wurden.13 Aus manchen der Fernseh- und Kinofilme wurden Videoinstallationen, die Arbeit des Essayfilmers traf auf ein neues und anderes Feld von Akteuren und die professionellen Kommentare verlagerten sich zusehends von der Filmkritik und der Filmwissenschaft in die Domäne der Kunstkritik und der Kunstgeschichte. Vor dem Hintergrund dieser Präsenz in den Institutionen der Kunst überrascht Didi-Hubermans These, die von Farocki übernommenen Bilder blieben außerhalb des künstlerischen Œuvres. Farocki präge dem visuellen Archiv der Geschichte kein künstlerisches Markenzeichen auf. „Seine Entscheidung, die Bilder, die ihn interessieren, hier oder da zu nehmen, wird nicht von der Frage der Ware und nicht einmal von der Frage der Kunst bestimmt. Sein Bestreben geht just dahin, das Copyright im Bereich der visuellen Archive der Geschichte verschwinden zu lassen. Er nimmt nur, um zur Kenntnis zu nehmen, und niemals, um sein Markenzeichen einzuprägen.“14 Dass Farockis Arbeiten ungeachtet ihrer Präsenz im Kunstsystem keinerlei Markenzeichen tragen und ohne Copyright zirkulieren, kann wohl bestritten werden. Im Abspann von Aufschub heißt es: „Autor/Produzent Harun Farocki 2007“. Als bloßes „Nehmen“ und „Zurückgeben“ ist die Aneignung historischen Bildmaterials wohl nicht angemessen beschrieben. Und doch erinnert Didi-Huberman zu Recht daran, dass Farockis Art der Montage die Bilder in weiten Teilen in ihrer historischen Form belässt.

„Auschwitz-Album“

Auch ihre Nachbearbeitung in Aufschub macht Breslauers Aufnahmen nicht nachträglich zum Kunstprodukt. In seinen Überlegungen verweist Didi-Huberman auf ein Bildzitat aus Farockis Bilder der Welt und Inschrift des Krieges (1988). Es zeigt eine Fotografie aus dem sogenannten Auschwitz-Album, das die Lagerinsassin Lily Jacob nach der Befreiung des Lagers in den Baracken entdeckt hat.15 Die Frau auf diesem Foto, so Didi-Huberman, werde „nie zu einem stilistischen Indikator der Kunst Farockis werden.“16 Das gilt auch für die Aufnahmen Breslauers in Aufschub. Auch wenn sie im Zuge ihrer Montage durch Farocki heute zum Gegenstand von Retrospektiven geworden ist, vermag der neue Rahmen ihre historische Substanz nicht zu löschen.17

Auszug aus Peter Geimers Buch Die Farben der Vergangenheit. Wie Geschichte zu Bildern wird, München: C.H. Beck, 2022, S. 240–251, 285–286 (mit Dank an den Autor und den Verlag)

Anmerkungen

1 Sylvie Lindeperg, Vies en sursis, images revenantes, in: Trafic 70, 2009, S. 25–32, hier: S. 27, Antje Ehmann, Der essayistische Film – eine Abgrenzung wovon? Zur Bestimmung von Harun Farockis Film Aufschub, in: Der Essayfilm. Ästhetik und Aktualität, hg. v. Sven Kramer u. Thomas Todein, Konstanz 2011, S. 89–100, hier: S. 95 und Thomas Elsaesser, Der Vergangenheit ihre eigene Zukunft lassen. Harun FarockisAufschub, in: Film und Geschichte. Produktion und Erfahrung von Geschichte durch Bewegtbild und Ton, hg. v. Delia González de Reufels, Rasmus Greiner u. Winfried Pauleit, Berlin 2015, S. 11–25, hier: S. 21.1

2 Harun Farocki, Wie Opfer zeigen?, in: VerWertungen von Vergangenheit, hg. von Elisabeth Wagner u. Burkhardt Wolf, Berlin 2009, S. 52–62, hier: S. 52. Farocki bezieht sich hier auf Alain Resnais’ Nuit et Brouillard (1956) und seine Vertonung durch Hanns Eisler sowie auf Erwin Leisers Dokumentarfilm Mein Kampf (1960).2

3Ehmann, Der essayistische Film, S. 95. Zum Verzicht auf Ton, um die „Technik der ‚stummen‘ Aufnahme zu respektieren“ siehe auch Philippe Despoix, Travail/sursis – délai sans remission, in: Intermédialités. Histoire et théorie des arts, des lettres et des techniques, 11/2008, S. 89–93, hier: S. 89–90 sowie Georges Didi-Huberman, Remontages du temps subi. L’Œil de l’histoire, 2, Paris 2010, S. 111.3

4 Ebd.4

5 Harun Farocki, Die Bilder sollen gegen sich selbst aussagen, in: Auszug aus dem Lager. Zur Überwindung des modernen Raumparadigmas, hg. v. Ludger Schwarte, Berlin/Bielefeld 2007, S. 295–311, hier: S. 308.5

6 Ehmann, Der essayistische Film, S. 97.6

7 Farocki, Wie Opfer zeigen?, S. 53.7

8 Harun Farocki, Eine Rede über zwei Filme, in: ders., Unregelmäßig, nicht regellos. Texte 1986–2000 (Schriften Bd. 5), hg. von Tom Holert, Berlin/Köln 2021, S. 112–118, hier: S. 113.8

9 Monika Wermuth, Bilder erinnern sich. Diskursgeschichte und Bildgedächtnis in Harun Farockis Film AUFSCHUB (2007), in: Film- und Fernsichten, hg. v. Katharina Klung, Susie Trenka u. Geesa Marie Tuch, Marburg 2013 (Film- und Fernsehwissenschaftliches Kolloquium 24), S. 17–25, hier: S. 21.9

10 Tatsächlich hat schon Resnais diese Sequenz aus Breslauers Film in Nuit et Brouillard übernommen. „Man begegnet dieser Sequenz fast täglich, denn sie wird routinemäßig in Fernseh-Dokudramen oder sogar in den Nachrichten gezeigt, wenn ein Produzent die Deportation und die Züge evozieren möchte, aber nur ein paar Sekunden hat, um dies gebündelt zu tun“ (Elsaesser, Der Vergangenheit, S. 14).10

11 Elsaesser, ebd., S. 18; siehe auch Sven Kramer, Neuere Aneignungen von dokumentarischem Filmmaterial aus der Zeit der Shoah, in: Film und Geschichte, S. 26–33 sowie Philippe Despoix, Travail/sursis, S. 89.11

12 Georges Didi-Huberman, Ein Bild wiedergeben, in: Ausst. Kat. Bild-Gegen-Bild / Image Counter Image, Haus der Kunst München, München/Köln 2012, S. 76. Siehe auch die ausführlichere Darstellung in: Georges Didi-Huberman, Remontages du temps subi. L’Œil de l’histoire 2, Paris 2010, S. 72–95.12

13 Farocki selbst hat diese Entwicklung wiederholt kommentiert, wenn er etwa verschiedenen Institutionen verschiedene Arten von Zuschauern bzw. Betrachtern seiner Arbeiten zuordnet: „Wird eine Arbeit von mir im Fernsehen gezeigt, so kommt es mir vor, als würfe ich eine Flaschenpost ins Meer, stelle ich mir einen Fernsehzuschauer vor, so ist der frei erfunden. In einem Kino scheint es mir jedoch, als könnte ich die kleinsten Schwankungen in der Aufmerksamkeit der Zuschauer auffassen und auf die Konstruktionen des Filmstücks zurück schließen. Die Zuschauer von Vorführungen in Kunsträumen sprechen mich häufiger an als die von Kinovorführungen, ich kann aber schwerer verstehen, was ihre Worte bedeuten.“ (Harun Farocki, Quereinfluss / Weiche Montage, in: Brecht plus minus Film, hg. v. Thomas Martin u. Erdmut Wizisla, Berlin 2003, S. 120).13

14 Didi-Huberman, Ein Bild wiedergeben, S. 76.14

15 Siehe dazu Harun Farocki, Die Wirklichkeit hätte zu beginnen, in: ders., Unregelmäßig, S. 119–133, hier: S. 130.15

16 Didi-Huberman, Ein Bild wiedergeben, S. 76.16

17 [Hier folgt der Schlussabsatz dieses Kapitels aus Peter Geimers Buch, dessen letzter, hier wiedergegebener Abschnitt Farockis Aufschub gewidmet ist:] „Das vorliegende Kapitel hat sehr unterschiedliche Formate des historischen Films in einen gemeinsamen Zusammenhang gebracht – Spielfilme von Orson Welles und Stuart Cooper, zwei Weltkriegsdokumentationen, schließlich Farockis Stummfilm-Remontage. Allen gemeinsam ist der Rückgriff auf historisches Bildmaterial, zugleich repräsentieren sie unterschiedliche Gattungen des Films, verfolgen unterschiedliche Absichten und richten sich zweifellos auch an unterschiedliche Adressaten. Macht eine Zusammenschau dieser Filme sich demnach nicht der gleichen Nivellierung schuldig, die hier an den Kompilationen von Apocalypse und They Shall Not Grow Old kritisiert wurde? Mehr noch: Warum dieser argumentative Aufwand, nur um den naheliegenden Befund zu liefern, dass historische Spielfilme, Auftragsarbeiten für das zeitgenössische Kino und öffentliche Sendeanstalten, schließlich Werke des Essayfilms unterschiedlich mit den historischen Beständen der Bildarchive umgehen? Die verschiedenen institutionellen Bedingungen und Kontexte der genannten Filme sollen nicht in Abrede gestellt werden. Sie waren hier aber nicht das Thema. Die Perspektive der vorangegangenen Betrachtungen war nicht diejenige einer interesselosen Untersuchung, die verschiedene Formate empirisch unterscheidet, sondern diejenige einer Kritik verschiedener Leitbilder historischer Rekonstruktion.“17

 

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06.05.2022 — Rosa Mercedes / 06