Depeschen aus der „zivilisierten Welt“. Der Ukraine-Krieg und die entpolitisierte Dauerkrise

Mark Terkessidis

Chinesische Botschaft in Belgrad, nach der NATO-Bombardierung am 7. Mai 1999

„Meine Generation, aber auch alle seit 1945 Geborenen, erleben nun erstmals diese Form des zwischenstaatlichen Krieges in Europa“, schrieb vor kurzem ein Hochschullehrer für neuere und neueste Geschichte der Süddeutschen Zeitung (SZ) – und es ist auch ansonsten ständig zu lesen, dass nun der „Angriffskrieg“ zurück sei in Europa. Dieser Angriffskrieg wird angeblich geführt von einem irrationalen, im „Gebäude seines selbstgezimmerten Wahns“ gefangenen Präsidenten, der es mit der „zivilisierten Welt“ aufgenommen hat (alles diverse Artikel, SZ).

Dass dieser Krieg zu verurteilen ist, daran kann kein Zweifel bestehen, ebenso wenig wie daran, dass die Putin-Clique seit Jahren die Russische Föderation nach den Vorstellungen der „Neuen Rechten“ totalitär umgestaltet. Aber dennoch darf man vielleicht nach ein paar Wochen die Erinnerung ein wenig auffrischen. Angriffskriege gab es in Europa auch zuvor. 1974 intervenierte die Türkei – der heutige Vermittler im Konflikt – in Zypern. Der Einsatz war nicht unberechtigt, denn zuvor hatte es dort einen faschistischen Putsch gegeben. Unberechtigt allerdings war die Eroberung von über einem Drittel der Insel, den die Türkei seitdem – völkerrechtswidrig – besetzt hält.

1999 griff die NATO – ohne Mandat durch das Völkerrecht – die Bundesrepublik Jugoslawien an. Der Grund war der angebliche Völkermord im Kosovo. Tatsächlich herrschte eine repressive Apartheidspolitik im Kosovo, aber sie konnte nur durch schamlose Lügen aller Art so aufgepumpt werden, dass Vergleiche mit dem Holocaust von höchster politischer Ebene im Westen auf einmal plausibel erschienen.

Dass die Verhältnisse im Kosovo plötzlich als Kriegsgrund eingestuft wurden, erscheint auch angesichts dessen erstaunlich, was damals und heute nicht nur außerhalb, sondern sogar innerhalb der Europäischen Union geduldet wird. Im Jahr 2019 beispielsweise wurde die bulgarische Stadt Plowdiw mit einem angeblich inklusiven Konzept gegenüber der türkischsprachigen Roma-Minderheit europäische Kulturhauptstadt. Aber kaum eines von den in der Bewerbung angekündigten Projekten wurde umgesetzt. Der von dieser Minderheit bewohnte und total segregierte Stadtteil Stolipinovo hat weiter Probleme mit Kanalisation, Trinkwasser und Stromversorgung; die Bevölkerung wird schamlos diskriminiert. Nach dem Kulturhauptstadtzuschlag wurde Stolipinovo wieder vergessen – abgesehen von ein paar Menschenrechts- und Romaaktivist:innen hat sich eh niemand wirklich dafür interessiert. Schon deshalb ist Stolipinovo einen Besuch wert. So schlimm hat es im Kosovo damals nicht ausgesehen.

Der Einsatz der NATO von 1999/2000 folgte wenige Monate nach dem ersten Schritt ihrer Osterweiterung durch die Aufnahme Polens, Tschechiens und Ungarns, womit sich das Bündnis bis an die Grenze der Russischen Föderation vorschob. Zudem unterhalten die Vereinigten Staaten seit dem Krieg mit 7000 Soldaten in Camp Bondsteel im Kosovo einen ihrer weltweit größeren Militärstützpunkte. Die Volksrepublik China, die sich damals vehement gegen die Intervention aussprach, musste die Bombardierung ihrer Botschaft in Belgrad hinnehmen – das Gebäude wurde „versehentlich“ getroffen, obwohl es als Solitär quasi auf eine Brachfläche stand. Wer mag da auf die Idee kommen, dieser Angriff auf einen mit Russland durchaus verbundenen Staat und die NATO-Osterweiterung könnten etwas mit einer Machtdemonstration zu tun gehabt haben?

Aber nicht doch, gerade heute ist ein guter Zeitpunkt für die deutsche Außenministerin, zum Tod der damals zuständigen US-Kollegin Madeleine Albright zu twittern, diese sei für die „Stärke und Freiheit von Demokratien“ eingetreten. „Unsere“ Angriffskriege werden stets für die gute Sache geführt, im Namen der Menschlichkeit, des Friedens, der „Zivilisation“ oder „unserer“ Lehren aus der Geschichte. Dabei habe ich über Afghanistan und Irak noch nicht einmal gesprochen. „Wir“ begehen auch keine Kriegsverbrechen.

Seit Jahren machen sich die Strategen in Moskau ein perverses Vergnügen daraus, die NATO-Rhetorik von der humanitären Intervention zu parodieren: Die Angriffe auf Georgien 2008 und auf die Ukraine 2014 (offenbar auch keine Angriffskriege in Europa, s.o.) wurden kurzerhand als Friedenseinsätze im Namen bedrohter Minderheiten deklariert. Und aktuell die gleiche Rhetorik: Keine Ahnung, heißt es aus dem Kreml, von welchem Krieg sie da im Westen eigentlich reden, das ist doch lediglich eine „militärische Spezialoperation“ gegen Nazis… Es ist schon erstaunlich, wie sehr die westliche Öffentlichkeit es ignoriert, wie „uns“ gerade unsere eigene Heuchelei und Doppelmoral gespiegelt wird.

Das alles relativiert den Krieg in der Ukraine mitnichten, und der ukrainische Intellektuelle Volodymyr Artiukh hat seinen linken Freund:innen in den USA kürzlich „US-plaining“ vorgeworfen, weil sie den Krieg quasi ethnozentrisch wegerklärten. Er wies darauf hin, dass die Putin-Clique mittlerweile mit der militärischen Macht der Russischen Föderation aus ihrer eigenen Dynamik ihre eigene Realität schaffe. Das ist richtig, wobei es sich aber nicht um das irrationale Werk eines Wahnsinnigen handelt. Putin hat in seinen Reden seit Jahren seine autoritäre Eurasianismus-Philosophie erklärt, die sich aus unterschiedlichen, aber durchaus nicht inkohärenten Quellen speist – aus der sowjetischen, primordialistischen Ethnologie (Lew Gumiljew), aus slawophilen oder später „weißen“, reaktionären Denkern (Leontjew, Iljin, Danilewski, Solowjew u.a.) und aus aktuellen neurechten Diskursen, wiederum hauptsächlich russischer Machart (Alexander Dugin).

Man mag das abgrundtief schrecklich finden, „irrational“ ist es nicht. Und überraschend auch nicht. Denn über diese ideologische Bodenbereitung berichteten in den vergangenen Jahren Walter Laqueur, Michel Eltchaninoff oder auch Veröffentlichungen der bekanntesten US-Militärakademie in Fort Leavenworth. Nicht umsonst ist Putin der Held aller Rechtsradikalen in Deutschland. Der Kollege Richard Gebhardt hat mich kürzlich nochmal daran erinnert, dass einige der größten Proteste von Rechtsradikalen in den letzten zehn Jahren (Montagsmahnwachen und Pegida-Demos) maßgeblich durch den Machtwechsel in der Ukraine nach den Euromaidan-Protesten motiviert wurden. Auch die unentwegten Invektiven des russischen Präsidenten gegen die „homosexuelle Kultur“ im Westen erfreuen sich in diesen Kreisen selbstverständlich großer Beliebtheit.

Der Ukraine-Krieg ist jetzt die dritte Großkrise hintereinander (nach der sogenannten Flüchtlingskrise und der Pandemie), die aus dem Nichts zu kommen scheint. Sie kommt aber nicht aus dem Nichts, ebenso wenig wie die beiden anderen. Ich musste mir 2015 einmal von einer Vertreterin der bayrischen Landesregierung mal höhnisch begegnen lassen, ich sei auch einer, der es hinterher vorher gewusst hätte. Tatsächlich habe ich es vorher gewusst – Tom Holert und ich haben 2006 ein Buch namens Fliehkraft über den Zusammenhang von Flucht, Migration und Tourismus an den Grenzen der EU veröffentlicht. Von Virologie verstehe ich nichts, doch klar ist, dass alle Expert:innen davon ausgegangen sind, dass eine Pandemie unmittelbar bevorsteht. Und nun scheint der Ukraine-Krieg, der eigentlich seit 2014 „heiß“ geführt wird (mit ca. 15.000 Toten), über „uns“ hereinzubrechen wie eine Naturkatastrophe. Hätten „wir“ nicht zum Beispiel wissen können, dass das russische Bruttoinlandsprodukt pro Kopf seit 2014 um rund 30 Prozent gesunken ist, und welches Problem das für denjenigen bedeutet, der sich als Verkörperung des russischen Volkswillens darstellt? Oder auf die Stimmen hören können, die gesagt haben, ein weiterer Angriff auf die Ukraine sei nur eine Frage der Zeit?

Aber gute Güte, bis gestern war die Ukraine doch weit weg, so weit wie Syrien, das ja auch gleich hinter der EU-Außengrenze liegt. Ich habe 2015 in Odessa Urlaub gemacht; einerseits, weil Odessa ein wichtiger Bestandteil der „griechischen“ Karte der Welt ist und ich immer dorthin wollte; andererseits, weil klar war, dass eine solch internationale und stark vom Tourismus lebende Stadt aufgrund des Krieges (der damals von Odessa noch weit entfernt tobte) kaum noch besucht würde. Ich will das überhaupt nicht als große Sache herausstellen, es war nur ein Urlaub, aber ich war damals sehr erstaunt über die Reaktionen, die ich in Deutschland erntete: Die meisten Leute wussten zwar kaum, wo dieser Ort eigentlich lag, aber meine Reise wurde als eine Art exotisches Himmelfahrtskommando ins postsowjetische Irrsinnsgebiet betrachtet. Und nun ist es plötzlich total selbstverständlich, dass die Ukraine zu „uns“ gehört? Fahnen, Kriegsgerassel, Waffenlieferungen, 100 Milliarden für die Bundeswehr. Eine noch intensivere Version der Mobilisierung im „massenkulturellen Krieges“, den wir 1999 erlebt haben (und über den wir 2002 das Buch Entsichert geschrieben haben).

Die moralische Selbstgerechtigkeit von Leuten, deren Frontlinie im eigenen Wohnzimmer verläuft, wäre eigentlich lächerlich, wenn nicht alle es bitter ernst meinen würden. Je weniger politische Kategorien für die Analyse der Welt vorhanden sind, desto mehr wird die nächste Krise kapitalisiert: Jetzt müssen „wir“ etwas tun, es gibt keine andere Möglichkeit – jetzt müssen „wir“ schreiben, fordern, Panel abhalten, helfen und nach Interventionen gegen den „Völkermord“ rufen.

Ja, die Ukraine ist angegriffen worden, die Hilfsbereitschaft und auch die Parteinahme sind ohne Frage gerechtfertigt. Aber die Dauerkrise ist eine falsche Form der Regierung, die uns permanent in der Gegenwart festnagelt. Wenn die Krise keine politische Geschichte mehr hat, dann können wir eben nur noch im Moment entscheiden, Alternativen gibt es dann nur noch sehr eingeschränkt. Und wie steht es mit den Konsequenzen dessen, was „wir“ jetzt tun?

Sollten die Verhandlungen nicht zu einem baldigen Ergebnis kommen, dann könnte sich die Ukraine auch in das europäische Afghanistan verwandeln. Putin hat zwar wahrscheinlich gar nicht vor, die Westukraine zu erobern, die nicht Teil seiner eurasischen Raumidee ist; aber auch der Krieg im Osten könnte lange dauern: Stalin hat nach dem Zweiten Weltkrieg zehn Jahre gebraucht, um die rivalisierenden Reste der nationalistische Armee von Stepan Bandera zu besiegen. Was ist mit den jungen Männern, an die nun alle Arten von Waffen verteilt werden. Wie genau schicken „wir“ die wieder nach Hause? Ab wann merken „wir“, dass wir mit diesen jetzt als Freiheitskämpfern geliebten Männern teilweise politisch so gar nicht übereinstimmen?

Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet – dieser Satz von Carl Schmitt wird seit den 1990er Jahren rauf und runter zitiert. Und der Satz ist falsch, denn:

Souverän ist, wer einen Plan hat.

 

Mark Terkessidis ist freier Auto und arbeitet u.a. zu Migration und Kolonialismus. Im Mai erscheint im Verbrecher Verlag der mit Natalie Bayer herausgegebene Sammelband Die postkoloniale Stadt lesen. Historische Erkundungen in Friedrichshain-Kreuzberg.

05.04.2022 — Rosa Mercedes / 05